Computerspiele sind heute ein riesiger Wirtschaftszweig. Die größten Titel (als AAA oder Triple-A bezeichnet) haben Millionenbudgets wie man sie sonst nur von Hollywood-Blockbustern kennt. Die Entwicklung des AAA-Spiels Cyberpunk 2077, das Ende 2020 erschien, kostete einen dreistelligen Millionenbetrag und bescherte der polnischen Firma CD Projekt bisher (Stand Ende April 2020) einen Nettogewinn von gut 301 Millionen US-Dollar. Da fallen die bislang 50 Millionen US-Dollar, die CD Projekt wegen zahlreicher technischer Probleme an enttäuschte Spielerinnen und Spieler zurückerstatten musste, kaum ins Gewicht. Solche wirtschaftlichen Schwergewichte wirken in eine ganz breite Spielerschaft hinein und auch die Massenmedien berichten darüber.
Spiele haben so die Chance, auch thematisch und spielerisch Akzente zu setzen. An Cyberpunk 2077 stechen dabei insbesondere die Technologien heraus, die in der dystopisch angehauchten Spielwelt gezeigt werden - doch Künstliche Intelligenz, Androiden, Elektrofahrzeuge, Genmanipulation, Virtual Reality, Gehirnimplantate, biomechanische Prothesen und Exoskelette haben längst ihren Science-Fiction-Status verloren. In zahlreichen Unternehmen und Forschungseinrichtungen weltweit wird daran gearbeitet, diese und weitere Technologien marktreif zu machen und in unser Leben zu integrieren: nicht nur zur Grundlagenforschung, sondern ganz konkret zur Arbeitserleichterung, im Bildungsbereich, in der Gesundheitsbranche und in der Freizeit.
Im Cyberpunk-Genre sind es Großkonzerne, die fortschrittliche Technologien kontrollieren; ärmere Menschen haben nur eingeschränkten Zugang zu veralteten Geräten. Von da kommt der »Punk« im Cyberpunk: das Zweckentfremden, das Hacken von Technik, das Selbermachen, als Protest oder gar als Rebellion gegen als unterdrückerisch empfundene Konzerne und konzernabhängige Regierungen. Wer Cyberpunk 2077 spielt, wird in so eine eigentlich ja kriminelle Rolle versetzt und erlebt die Schattenseiten dieser Welt. Gegner sind die Wohlhabenden. Obwohl wir im Spiel permanent selbst mit technischen Erweiterungen hantieren, schreibt das Spiel doch narrativ und atmosphärisch die Technik- und Kapitalismuskritik fort, die dem Genre innewohnt - ironischerweise trotz des eigenen wirtschaftlichen Interesses und Erfolges. Nun ist Technikkritik durchaus wichtig, aber die positiven Chancen neuer Technologien werden dabei gern in den Hintergrund gerückt. Dabei gibt es sie.
Digitale Prothetik
Im Spiel dienen Arm- und Beinprothesen in einem transhumanistischen Sinne der Leistungssteigerung oder bei manchen Figuren sogar nur als modisches Accessoire - so wie der Gangster von heute Goldkettchen trägt, ist er in Cyberpunk 2077 eben mit einer goldenen Beinprothese ausgestattet, und der Widerstandskämpfer von morgen trägt wie Johnny Silverhand (Hollywood-Star Keanu Reeves) eine silberne Armprothese. Das sind Genre-Klischees, die solche Technik suspekt erscheinen lassen und davon ablenken, worum es beim Protheseneinsatz im echten Leben geht: Menschen mit körperlichen Einschränkungen, etwa nach einem Unfall, wieder mehr Lebensqualität zu geben. Und das machen keine anonymen Megakonzerne.
Ein deutsches Unternehmen, das daran tagtäglich arbeitet, ist Ottobock. Während die Firma sich bei Gründung 1919 mit der Serienfertigung klassischer Prothesentechnik hervortat, ist Ottobock heute einer der innovativsten Hersteller digitalisierter Prothesen und Exoskelette. Schon 1997 präsentierte Ottobock die erste mit einem Mikrochip versehene Beinprothese namens C-Leg - über 75.000 Stück wurden davon seitdem weltweit eingesetzt. Neuere Produkte wie Myo Plus und bebionic ermöglichen eine fast natürliche Handprothetik, während Träger von Beinprothesen mit Genium X3-Gelenk sogar schwimmen, Rad fahren und joggen können. Individuelle Anpassung der jeweiligen Lösung ist für den Nutzungserfolg entscheidend - als Teil von Beinprothesen bietet Ottobock etwa mehrere Prothesenfüße mit unterschiedlichen Eigenschaften an. Eine Smartphone-App erlaubt es den Trägerinnen und Trägern, die Prothese noch besser an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
Dass dies so gut funktioniert, liegt auch an Künstlicher Intelligenz. Darunter muss man sich aber, anders als in Science-Ficiton-Szenarien, keine verrückt gewordenen Computer-Bewusstseine mit eigenem Willen vorstellen, sondern mathematische Verfahren des Machine Learnings. Sie erlauben das Erkennen und Klassifizieren von Mustern sowie die Generierung dazu passender neuer Inhalte. Das Steuerungssystem Myo Plus von Ottobock nutzt Machine Learning, um die für jeden Nutzer unterschiedlichen, typischen Bewegungsmuster zu erlernen und so die Bewegung der bebionic-Prothese zu optimieren. Michael Friedrich Russold erläutert den Vorteil von Ottobocks Ansatz: »Früher mussten Menschen mit einer Amputation aufwändig lernen, Signale zur Steuerung bewusst mit Muskelsignalen zu geben: ob sie die Finger fest verschließen und eine Einkaufstüte tragen oder nur den kleinen Finger ausstrecken. Mit KI lernen Prothesen, können eine gewünschte Bewegung identifizieren und automatisch der richtigen Handbewegung zuordnen.« Während also eine Prothese ohne KI nur ein statisches Hilfsmittel war, wird sie dank Machine Learning zu einer echten, integrierten Erweiterung des eigenen Körpers.
Chips im Gehirn
Damit kommen wir übrigens zu einem weiteren beliebten Thema in Cyberpunk-Szenarien: Die Verbindung des menschlichen Gehirns mit Computern. Für die Menschen in Cyberpunk 2077 ist das nichts Besonderes. Wie einen USB-Stick stecken sich die Protagonisten digitale Erweiterungen in eine im Schädel eingebaute Buchse, um so Informationen auszutauschen oder neue Fähigkeiten zu erlangen. Bei der Hauptfigur des Spiels läuft das schief - der Chip ist fehlerhaft und nervt den Spieler von nun an mit Halluzinationen von Johnny Silverhand. Der ist nämlich längst verstorben und spukt nur noch in Form einer digitalen Kopie herum, die im Spiel in zahlreichen Situationen zynische Kommentare abgibt. Unsterblichkeit zu erlangen durch den »Upload« des menschlichen Bewusstseins in Computer ist eine alte transhumanistische Sehnsucht, die fast schon techno-religiöse Züge trägt. Aber wie schon bei Prothesen gibt es auch für den »Chip im Gehirn« wesentlich alltagsnähere Anwendungen. Am bekanntesten ist wohl das Cochlea-Implantat, mit dem taube Menschen bis zu einem gewissen Grad ihre Hörfähigkeit wiedererlangen erkönnen. Auch an Netzhautimplanten wird seit langem geforscht; immerhin Unterscheidungen in Hell und Dunkel sind schon möglich. Und Menschen, die am sogenannten Locked-in-Syndrom leiden, hoffen auf sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCIs) - technische Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer, mit dem es zum Beispiel möglich wird, einfache Eingaben (wie das Bewegen eines Mauszeigers) umzusetzen.
Das Locked-in-Syndrom wird durch die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ausgelöst, was das motorische Nervensystem stört. Die Patientinnen und Patienten sind bei vollem Bewusstsein, können sehen und hören, haben aber keine Bewegungsmöglichkeiten, sodass sie sich nicht äußern können. BCIs sind hier ein Segen, denn sie versprechen soziale Teilhabe. BCIs arbeiten bisher vor allem mit Elektroden, die von außen mittels EEG Gehirnströme messen können; sie wurden einem breiten Publikum das erste Mal bekannt durch die Arbeiten des Künstlers Adalbert (Adi) Hoesle. In Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern und Informatikern vermittelten Hoesles Projekte Brain Painting und Brain Dancing einen Eindruck davon, wie BCIs Menschen mit Locked-in-Syndrom helfen können: Beim Brain Painting wurde der durch die gemessenen Hirnströme gesteuerte Mauszeiger verwendet, um auf dem Computer Bilder zu malen; beim Brain Dancing steuern Patienten stattdessen einen digitalen Avatar, um mit diesem Tanzbewegungen auszuführen.
Doch von außen aufgebrachte Elektroden sind nur der erste Schritt. Die Firma Neuralink - ein weiteres Kind des amerikanischen Unternehmers Elon Musk, der vor allem mit Tesla und SpaceX erfolgreich ist - arbeitet daran, das menschliche Gehirn direkt mit Computerchips zu verknüpfen. 2019 stellte Musk Neuralink vor und verkündete, dass die ersten Anwendungsgebiete die Hilfe für Gelähmte sein soll. Den aktuellen Stand der Arbeit zeigte Neuralink 2021 in einem Video am Beispiel eines Affen. Darin behauptet Neuralink, dass der Affe vor sechs Wochen mit einem Chip ausgestattet worden sei. Der Affe bewegt zunächst mit einem Joystick einen Cursor auf einem Bildschirm auf ein Quadrat und erhält eine Belohnung, wenn ihm dies gelingt. Dabei zeichnet der Chip die Gehirnmuster des Vorgangs auf. Dem Affen wird dann der Joystick weggenommen, aber der Cursor bewegt sich weiter auf die erwünschte Weise. Neuralink sagt, dass der Affe auch ohne Joystick die entsprechenden Gehirnmuster produzieren und der Chip diese an den Computer weiterleiten würde.
Neuralinks Angaben schlug große Skepsis entgegen, denn es liegen keine unabhängig zu prüfenden Forschungsdaten vor. Doch Elon Musk twitterte nach dem Video optimistisch, dass die ersten verfügbaren Neuralink-Produkte gelähmten Menschen die Bedienung eines Smartphones erlauben würden. Wenn dies gelänge, wäre es eine enorme Erleichterung. Und ob von außen aufgebrachte EEG-Sensoren oder direkt implantierter Chip: Die Möglichkeiten, gelähmten Menschen oder Patienten mit Locked-in-Syndrom zu helfen, wären enorm, man denke etwa an die Kombination mit virtuellen Welten, in denen viele Menschen zusammen interagieren, idealerweise kombiniert mit einer Virtual Reality-Brille (VR, zum Beispiel Oculus) oder einem Augmented Reality-System (AR, wie Microsofts HoloLens, die virtuelle und reale Welten optisch verschmelzen) kann sich dieses Gefühl noch steigern. Aus der Sozialpsychologie weiß man, dass auch virtuelle Welten echte soziale Interaktion und echte Bindungen ermöglichen können, und so bietet die Kombination von BCIs mit VR/AR-Welten die Möglichkeit echter Teilhabe.
KI muss nicht böse sein
In Spielen wie Cyberpunk 2077, aber auch in Fernsehserien wie Black Mirror werden die Gefahren neuer Technologien betont. Doch selbst einem Elon Musk ist Technikskepsis nicht fremd. Als er 2019 Neuralink vorstellte, ging es auch um ein Fernziel der Entwicklung. Die Hilfe für Gelähmte ist für Musk nur ein erster Schritt. Im weiteren Verlauf möchte er die Menschheit mittels Gehirnchips befähigen, mit Künstlicher Intelligenz mitzuhalten, die Musk sonst als Gefahr ansieht. Ob eine neue technische Lösung für selbstgemachte technische Probleme der richtige Ansatz wäre, sei einmal dahingestellt (mitunter wäre für den Umgang mit KI, wie wir sie heute verstehen, auch eine entsprechend auszubildende erweiterte Medienkompetenz ausreichend), aber sowieso muss KI nicht grundsätzlich eine Gefahr sein. Klug und reflektiert eingesetzt, und wenn sichergestellt wird, dass nicht nur ein paar Priviligierte dazu Zugang haben, kann sie unser aller Leben einfacher und sicherer machen. Die eingangs erwähnten Prothesen von Ottobock wären ohne KI nicht möglich; alltagstaugliche BCIs werden sicher ebenfalls durch Machine Learning verbessert sein, viele monotone Verwaltungstätigkeiten lassen sich durch KI erleichtern, und (denken wir etwa an den Autoverkehr) wie viele Menschen bräuchten gar keine Prothesen, oder würden noch leben, wenn es dank KI weniger Verkehrsunfälle gebe?
Klar, in einem Spiel wie Cyberpunk 2077 drehen die KI-gesteuerte Taxis durch und wenden sich gegen Firma, Fahrgäste und Passanten. Und das Fahrassistenzsystem von Elon Musks Autofirma Tesla sorgte schon für Negativschlagzeilen, weil unvorsichtige Fahrer Teslas etwas irreführende Bezeichnung »Autopilot« wörtlich nahmen. Aber dass die Grundidee, den laufenden Verkehr durch Sensoren zu beobachten, dank Mustererkennung typische gefährliche Standardsituationen zu erkennen und entsprechend zu reagieren, theoretisch zu mehr Sicherheit führen kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Freilich sind da neben immer besseren Auswertungsverfahren vor allem ethische Fragen offen: Kann eine KI entscheiden, wie sie bei einem drohenden Unfall ausweicht? Was, wenn sie nur die Wahl hat, das Leben einer Person dem einer anderen vorzuziehen - beispielsweise die Insassen zu opfern, um die Schulklasse am Straßenrand zu schützen? Philosophen und Juristen beschäftigen sich schon lange mit diesem Problem, einfache Lösungen gibt es nicht. Womöglich bleiben solche »auf Leben und Tod«-Entscheidungen daher auch am Menschen hängen.
Apropos Straßenverkehr: Schauen wir uns die Autos in Cyberpunk 2077 an, dann machen die einen ziemlich retro-futuristischen Eindruck - da steckt mehr aus den 1980ern drin als von Stilelementen heutiger Fahrzeuge, die ja eher durch sanfte Linien und Kurven geprägt sind. Aber Mode ändert sich, und wenn man sich Teslas 2019 vorgestellten Cybertruck anschaut, wird man durchaus an Cyberpunk-Szenarien erinnert. Der Cybertruck ist ein wuchtiges Fahrzeug, dessen angestrebte Stabilität, aggressive Linienführung und unlackierte Edelstahloptik vor allem Macht demonstriert - kein Wunder, dass sich Sicherheitsbehörden für den Cybertruck interessieren. Erste entsprechende Bestellungen aus Dubai und Mexiko liegen bereits vor. Inwieweit der Sechssitzer eines Tages auch bei uns das Straßenbild irritieren wird, ist unklar. Ein deutscher TÜV-Mitarbeiter äußerte 2019 auf der Website des SPIEGEL Bedenken, dass der Cybertruck durch die kantige Frontpartie und fehlende Knautschzone in Deutschland wohl keine Zulassung bekäme.
Exponenzielle technologische Nutzung?
All die genannten Beispiele sind keine Zukunftsmusik mehr, sie sind heute bereits vorhanden, werden eingesetzt oder stehen kurz vor der Einführung. Und sie stehen alle nicht für sich, sondern werden dank Internet und Apps auf Smart Devices (also Smartphone, Smartwatch, Tablet usw.) integriert. Sie erweitern und ergänzen sich gegenseitig, schaffen teilweise Mehrwerte und Nebenfolgen, die für das einzelne Gerät gar nicht abzusehen waren. Droht damit etwa wirklich die »technologische Singularität«, wie Ray Kurtzweil sie für ca. 2040 prophezeit hat - der Punkt, an dem KI & Co. sich durch ihre schiere Menge und Vernetztheit zu einer eigenen selbstständigen Macht entwickeln? Oder stehen uns so düstere Zustände wie in einem Cyberpunk 2077 bevor, wo wenige Reiche Zugriff auf moderne Technik haben, die Mittelschicht verschwunden ist und der große Rest der armen Bevölkerung durch illegale Hacks und Eigenentwicklungen versucht, am technischen Fortschritt teilzuhaben?
Dem stehen zumindest heute viele staatliche Regeln entgegen. Beispielsweise hat 2021 die Europäische Union Vorgaben zur KI-Nutzung erlassen, damit Grundrechte gewahrt bleiben. Die EU geht regelmäßig auch gegen monopolistische Bestrebungen von Großkonzernen wie Google, Apple, Microsoft oder Facebook vor. Und auch branchenspezifische Gesetze sorgen für Kontrolle. Dazu nochmal zurück zur Medizin: Danach gefragt, wie weit die Integration von Prothetik mit anderen Technologien gehen könnte - ob etwa eine vielseitige Prothese in Zukunft vielleicht durch 5G ein vernetztes Auto oder ein Heimnetzwerk steuert und selbst auch das Smartphone ersetzen kann - antwortet Güngör Kara von Ottobock: »Jedes Gerät erweitert das Netzwerk zu anderen Geräten. Dadurch ergeben sich exponentielle Nutzungsmöglichkeiten und in solch einer Zukunft könnten bionische Smart Wearables wie unsere smarten Prothesen integriert werden.« Doch wer sich deswegen Sorgen macht, wird von Kara beruhigt: »Man muss aber bedenken: Wir stellen Medizinprodukte her. Diese unterliegen strengen regulatorischen Anforderungen und Prothesen müssen sehr hohen Sicherheitsanforderungen in Bezug auf Kommunikation und Steuerung genügen. Eine Integration und Offenlegung der Schnittstellen in andere Produkte ist nicht so einfach möglich.«
Ähnliches ließe sich zurzeit über alle modernen Technologien sagen. Das vielbesungene Internet der Dinge schließt den Menschen ein, und schon aus Eigeninteresse wirken dessen Kontrollprozesse allzu überschwänglichen Auswüchsen entgegen. Ganz so leicht werden wir also nicht in die technologische Singularität oder in die Cyberpunk-Dystopie schlittern.
Autor: Mario Donick / VÖ: HARBOR Magazin
Foto: Bandai Namco Cyberpunk 2077